Stärkeres autistisches Verhalten nach der Diagnose?

Spät diagnostizierte Autisten berichten oft von einem Gefühl, ihr autistisches Verhalten hätte sich nach der Diagnose verstärkt. Man hat vielleicht über Jahrzehnte der Unwissenheit niemals eine Änderung verspürt und dann, zusammen mit dem Arztbrief, ist plötzlich dieses Erleben da.

Gar nicht selten berichten davon auch Außenstehende wie Familienangehörige, Freunde und Bekannte. Dann hört man soetwas wie: „Früher hast du dich doch auch nicht so autistisch verhalten„. Zwangsläufig ergibt sich daraus die Frage, ob man das alles vielleicht nur unbewusst vortäuscht, weil man diagnostiziert wurde?

Nur ein Gefühl?

Nein. Du täuschst nichts unbewusst vor und es ist auch nicht nur ein Gefühl, dein autistisches Verhalten hat sich tatsächlich verstärkt. Dieses Erleben von Betroffenen und auch das, was Außenstehende nach einer Autismus-Diagnostizierung beobachten, bezeichnet man als Demaskierung (engl. Unmasking).

Kennt man einen Autisten, kennt man genau einen Autisten. Es ist ein Spektrum und keine Skala – soll heißen, wir sind alle unterschiedlich. Maskieren müssen wir uns dennoch alle und was hier passiert ist, im übertragenen Sinne, ein sich lösender Krampf und ein Schritt zur Selbsterkenntnis.

Demaskierung

Tatsächlich sind sich viele ihrer Maskierung [für Details siehe Autismus Glossar] gar nicht (mehr) bewusst. Wir müssen es tun, um uns dem sozialen Umfeld anzupassen, akzeptiert und anerkannt zu werden. Viele von uns wurden aktiv so erzogen und therapiert, um wie alle anderen zu wirken. Alles, was die Maskierung umfasst, ist für Autisten nämlich nicht intuitiv.

Gesund ist die Maskierung für unsere Psyche nicht, denn wir unterdrücken damit jeden Tag unser wahres Selbst, unsere Gefühle und unsere Bedürfnisse. Es ist gesellschaftlich nicht toleriert, Blickkontakt unangenehm zu finden und nicht legitim, sich auf einer Party unwohl zu fühlen. Also tarnen wir uns, passen uns an.

Es mag für Außenstehende befremdlich klingen, aber ich persönlich habe auf einer Party jedes Mal das Gefühl, mir einen Nervenzusammenbruch auf Raten anzueignen. Jedes Mal, wenn ich nicht absagen konnte, aus Höflichkeit nicht wollte oder aus einem anderen Grund zu so einer Feier muss, hinterlässt das Schäden. Meine Toleranzschwelle wird geringer und ich kann immer weniger davon „ertragen“. Oder eine sich zäh haltende körperliche und geistige Niedergeschlagenheit, die sich jedesmal mehr in die Länge zieht und viele neue Ängste, die davon entstehen.

Moment der Erkenntnis

Im Moment der Erkenntnis, also der Diagnose, haben wir nun das erste Mal in unserem Leben eine Erlaubnis, so fühlen und verlangen zu dürfen, wie es unser autistischer Geist wirklich tut und nicht so, wie es unser nicht-autistisches Umfeld von uns erwartet. „Stärkeres autistisches Verhalten“ tritt dann ganz zwangsläufig hervor, wie ein Befreiungsschlag.

Ab diesem Moment erkennst du, es ist völlig legitim, sich auf Partys unwohl zu fühlen und du musst dich nicht länger zwingen, das toll zu finden, weil alle anderen es toll finden. Es ist okay, die Party abzusagen, den Blickkontakt nicht zu halten zu können und es ist absolut in Ordnung, an einem schönen, sonnigen Tag ein Bedürfnis nach Flucht ins Innere zu haben, weil es dir unerträglich zu hell draußen ist. Es gibt so viele Beispiele!

Besonders wichtig: Du darfst das und du bist nicht die einzige Person, die so denkt und fühlt!

Plötzlich flatterst du mit den Händen, wenn du glücklich oder nervös bist, obwohl du das zuvor nicht getan hast. Stehst du stark unter Stress, fängst du vielleicht plötzlich an, mit dem Oberkörper zu wippen. Ja, es gibt auch negative Seiten, denn nun könntest du öfter Mal einen Meltdown oder Shutdown bekommen – aber auch das ist okay.

An Demaskierung ist nichts falsch. Es ist wichtig, sich selbst besser kennenzulernen, manchmal ist es vielleicht beängstigend, aber es ist nie falsch.