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Ist jeder seines eigenen Glückes Schmid?

Jeder ist seines eigenen Glückes Schmid. Eine allgemein bekannte Phrase die suggeriert, dass jedem Menschen die Freiheit und Möglichkeit gegeben ist, mit Fleiß und Leistung alles zu erreichen. Das Ergebnis dieser Bemühung ist das Glück. Doch inwiefern trifft das heute noch zu?

Stratifizierung

Die Gesellschaft in Deutschland ist wieder stark stratifiziert. Das zeigt sich bei den Kleinsten in der Schule und endet bei den Rentnern. Hier ein paar Daten und Fakten:

Während die Lebenshaltungskosten immer weiter steigen, steigt das Durchschnittseinkommen im Vergleich dazu kaum. In vielen Bereichen sinkt es sogar wegen Zeitarbeit, Leiharbeit, 1€-Job, Outsourcing und allen anderen Bemühungen, Tariflöhne irgendwie zu umgehen. Hierbei bewegen wir uns in Niveaus von 20 bis 50 Prozent weniger Gehalt für die gleiche Arbeit. Bezüglich der Gender Pay Gap müsste man also die steile These aufstellen, Frauen wollen am wenigsten ihres Glückes Schmid sein… Seit 2020 ist Deutschland wieder Weltmeister, bei Steuern und Abgaben bzw. bei Belastung der Bürger.

Waren 2010 13 Prozent der Rentner von Altersarmut betroffen, sind es 2020 schon 18 Prozent. Oder mit anderer Worten: Jeder Fünfte und Tendenz stark steigend. Das Rentenniveau soll bis 2030 auf 43 Prozent abgesenkt werden. Ein kurzer europäischer Vergleich: Das Rentenniveau in Österreich liegt bei 92, in den Niederlanden sogar bei 101 Prozent.

Der Niedriglohnsektor, der mit der Agenda 2010 als Wirtschaftsmotor angepriesen wurde zeigt sich als Sackgasse statt Sprungbrett. Betroffen sind über sieben Millionen Arbeitnehmer, Tendenz steigend.

41 Prozent der Deutschen haben praktisch kein Vermögen. Kein Erspartes, keine Sicherheiten, weil ihnen dazu die Möglichkeiten systematisch entzogen werden. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland hier besonders schlecht.

Immer wieder hört man, in Deutschland muss niemand obdachlos sein. Ein hartnäckiger Mythos. Die Zahlen wachsen, die Feststellung ist getan, aber auch nicht mehr. Stattdessen folgt eine Debatte nach der anderen über den Unterschied zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit. Beides führt am Ziel vorbei.

Während rund zwei Millionen Kinder in Deutschland mit Hartz IV (ALG II) aufwachsen, war 2018 noch jedes sechste Kind armutsgefährdet. 2020 schon jedes fünfte. Für Alleinerziehende gilt bekanntlich der Abzug von Kindergeld und Unterhalt. Hat ein „Hartz IV-Kind“ einen Ferienjob, spart für den Führerschein oder die Ausbildung, wird auch das angerechnet. Im Regelsatz sind gerade einmal 1,61 Euro für Bildung vorgesehen, Stand Januar 2021.

Unabhängig von schulischen Leistungen erhalten Kinder aus schlechteren sozialen Verhältnissen kaum höhere Schulempfehlungen. Es zeigt sich deutlich, dass das Einkommen der Eltern bestimmt, wie die Chancen der Kinder stehen und weshalb sozialer Aufstieg in Deutschland eine Randerscheinung ist.

Wer gilt als arm?

Wie man Armut präzise definiert und in welchem Staat man noch ärmer ist, ist ein anderes Thema. Relevant sei an dieser Stelle nur, wie uns das in Deutschland betrifft.

Armut heißt nicht nur in einem Slum gegen den Hungertod zu kämpfen. Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat. Das sind rund 20 Prozent der Bevölkerung. 43 Prozent der Alleinerziehenden sind arm. Millionen sind arm trotz Arbeit. Alles Einzelfälle, die nicht ihres Glückes Schmid sein wollen?

Übrigens gibt es einen Unterschied zwischen Leben und Überleben. Leben ist, wenn man sich so versorgen kann, dass man sich selbst oder eine Familie nicht nur irgendwie durchbringt. Überleben, wenn man am Ende des Monats kaum noch einen Einkauf machen kann. Und wenn dann noch die Waschmaschine kaputt geht, ist das ein Fiasko.

Immer wieder hört man kollektiv: Deutschland geht es gut und die ganze Welt blickt neidisch auf uns. Aber wer blickt da? Nur jene, die ihre eigenen Staaten mit neoliberalem Marktradikalismus ausstatten wollen.

Die Ideologisierung des Glücks

Wenn es mit dem Glück nicht hinhaut, bist du selbst Schuld an der Misere.

Das Schmieden des eigenen Glücks setzt eine grundsätzliche Kontrollierbarkeit sämtlicher Lebensereignisse voraus, die weder Krankheit, Tod noch Einfluss, Fremdbestimmung oder andere Tragödien kennt.

Es ist bequemer pauschal davon auszugehen, dass alle die heute nicht im Glück baden nur arbeitsscheu sind, oder sich und ihre Kinder nicht bilden wollen. So wie es uns bekannte Boulevardblätter und Privatsender zur Metapher erklärt haben. Faule, bildungsferne, rauchende, daueralkoholisierte Unwillige.

Jeder ist seines eigenen Glückes Schmid. Dient die Phrase nicht bloß der Ermutigung, hat sie mit der Realität nicht viel zu tun, ist also nur eine Ideologie.