Expertise Elternschaft

Für die Zubereitung des optimalen Teewassers bis zur subatomaren Astroteilchenphysik existiert zwischenzeitlich für nahezu alles eine Expertise. Grundsätzlich unterliegt das natürlich dem Urteil der allgemein akzeptierten „Normalität“. Wenn man Experten jedes noch so belanglose Problem anvertraut, kommt schnell der Punkt, an dem die einfachsten, natürlichsten Gegebenheiten professionalisiert werden und wir uns bereitwillig von jedweder Verantwortung befreien lassen – bis in die Unmündigkeit.

Helikoptereltern

Die Zeiten stehen schlecht für Eltern, besonders in Deutschland. Waren es erst noch die Jahrzehnte lang minimalen Geburtenraten, wird Erziehung heute nur noch als Defizit thematisiert.

Kinder und Hunde, in vielen deutschen Restaurants nicht erwünscht. Ruhe und Frieden während des Essens sollen nicht einem quengelnden Kind weichen müssen. Ab und an in den Medien vorzufinden, stößt derartiges bei den meisten Eltern auf wenig Verständnis, in der Masse aber auf hohe Zustimmung. In anderen Ländern vermutlich ein Skandal.

Ein Thema ist aber seit Jahren präsent, Helikopter-Eltern. Es handelt sich dabei um Eltern, die ihre Kinder zum Lebensmittelpunkt machen. Alle Aufmerksamkeit richtet sich nur auf das Kind und es soll als Statussymbol fungieren, um die eigene Aufbietung und Kompetenz zu verdeutlichen. Fast so wie beim Impression Management. Die Kinder würden überfürsorglich behandelt, permanent kontrolliert und von jeglicher Verantwortung entledigt. Vom Kindergarten bis ins Studium an der Hand von Mama und Papa.

Ein beliebtes Beispiel aus der Presse, das sogenannte „Eltern-Taxi“. Kurz um, die akribische Hervorhebung des medial erklärten Tabus, sein Kind mit dem Auto zur Schule zu fahren. So etwas gab es selbstverständlich früher nicht. Auch hatte man nicht den Luxus eines Schulbusses, sondern musste kilometerweit bei allen Wettern zu Fuß durch das halbe Land waten.

Die Folgen dieser Überbehütung seien Unselbstständigkeit, Faulheit, Narzissmus und tyrannisches Verhalten, Verantwortungslosigkeit und, wer hätte es nur gedacht: ADHS.

Immerhin ist nicht wie bei „Smartphone-, Computer-, Spiele- oder Fernseh-Sucht“ mit schwersten Behinderungen zu rechnen. Diese Kinder würden unweigerlich zu einer Generation, die verantwortlich für den Niedergang von Kultur und Gesellschaft sein wird und alles in die Katastrophe stürzt.

Schuldumkehr oder Rechtfertigung

Neu ist der Sachverhalt der Helikoptereltern nicht. Der Begriff „Helikoptereltern“ war bereits in den 1960er-Jahren sehr beliebt und beschrieb inhaltlich identische Handlungen und Folgen. Das wiederum heißt im Klartext, die heute Kritisierenden waren selbst die überbehüteten Kinder.

Eine alternative Version lässt sich eher mit Beobachtungen vereinbaren: Die Kinder so früh wie möglich aus dem Haus schaffen. In die Krippe, zum Babysitter oder zur Tagesmutter, damit Mutter und Vater ihre Karriere pflegen oder, auch das muss erwähnt sein, mit zwei oder mehreren Jobs das finanzielle Auskommen der Familie sichern können.

Auch für das Schulkind gibt es nach der Ganztagesschule eine Unzahl an Vereinen, Lerngruppen, Nachhilfen und weitere Formen der Nachmittagsbetreuung. „Leihgroßeltern“ oder notfalls das Bällebecken im Möbelhaus. Montag Fußball-Verein und Taekwondo, Dienstag zur Mathe-Nachhilfe. Mittwoch Klavierstunde und Cello, Donnerstag Karate und Hausaufgabenbetreuung, am Freitag Lateinkurs und Schwimmunterricht – Hauptsache die Blagen sind aus dem Haus?

Leider auch nicht mehr selten, der Burnout bei Kindern und Jugendlichen. Verwunderlich? Nicht wirklich, doch es passt so überhaupt nicht zu dem vorherrschenden Bild der verhätschelten Stubenhocker.

Unterdessen diskutieren namenlose Sommerloch-Experten noch über eine wachsende Anzahl von Bindungsstörungen bei Kindern, die auf die Nutzung des Smartphones zurückzuführen seien. Sogar dafür gibt es eine Expertise, zumindest ein Kolumnen-Spezialist findet sich sicher. Und was ist mit der Eskorte bis in die Uni? Eigentlich leicht erklärbar.

Die Entwertung von Ausbildungsberufen und gesellschaftliche Festsetzung nicht-prestigetauglicher Jobs macht sich im späteren Berufsleben schnell bemerkbar. Zum Beispiel wenn Einkommen, Lebenshaltungskosten und Vorsorge von der Expertise auf die Realität treffen.

Widerspruch

Wer möchte nun Eltern das natürliche Fürsorgeverhalten gegenüber ihren Kindern absprechen? Man kann also festhalten, Eltern haben hohe Ansprüche an die Lernleistung ihrer Kinder und somit an das Erreichen einer höheren Bildungslaufbahn. Das steht aber im Widerspruch zur allgemein vertretenen Aussage, die Kinder würden „verhätschelt“ und von jeglicher Verantwortung befreit.

Die Elternschaft ist nunmehr eine detailliert wissenschaftliche Expertise: Wie lange darf das Kind Fernsehen? Darf ein Kind Computer und Smartphone haben? Spiele spielen? Darf man sein Kind vegetarisch ernähren? Darf ein Kind auch mal eine Cola trinken? Sollte man sein Kind impfen lassen? Krankes Kind? Das liegt an Ihrer Erziehung!

Leider handelt es sich bei keinem der Satzbeispiele um Übertreibungen. Doch eine Frage bleibt noch offen, wozu dient die permanente Elternkritik? Sie dient dem Erzeugen von Minderwertigkeitsgefühlen, Ängsten, der Profilierung von Leitfiguren aber auch zum Füllen von medialen Sommerlöchern.

Noch andere profitieren, viele Eltern werden bereitwillig psychologische oder andere Praxen aufsuchen. Sie kaufen Eltern- oder Erziehungs-Ratgeber, um dem unaufhörlichen Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung Folge zu leisten, um Ängsten zu entgehen und die gesellschaftliche Geltung zu sichern.