Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so viel über arme und abgehängte Kinder gelesen zu haben, wie derzeit über die sog. „verlorene Corona-Generation“. Dabei sind das Zustände, die im deutschen Schulsystem schon seit Jahrzehnten vorherrschen aber bislang schweigend hingenommen werden.
Verlorene Generation, Kinder dauerhaft abgehängt – um nur zwei Beispiele anzuführen, liest man dieser Tage permanent solche Schlagzeilen.
Immerhin, die OECD kritisiert seit Ewigkeiten die Chancenungleichheit im deutschen Bildungssystem. Auch der Paritätische Gesamtverband weist immer wieder darauf hin und sogar die Bildungsberichte der Bundesregierung. Erfolgreich wegignoriert.
So sehr auf diese Corona-Generation, COVID-19 selbst und den Lockdown möchte ich gar nicht eingehen, das sind Themen für sich. Fassen wir kurz die aktuelle Stimmung zusammen: Homeschooling doof, Distanzlernen doof, Lernen am PC doof, Lernblätter doof, Schüler doof. Nun haben wir die Corona-Generation und müssen das so hinnehmen.
Von Alternativen liest man nichts. Man könnte beispielsweise alle das Schuljahr wiederholen lassen, aber was weiß ich schon…
Eines steht jedenfalls fest: Das Jubeln war groß, als das Turbo-Abi bzw. G8 eingeführt wurde und ein ganzes Schuljahr wegfiel, damit die Wirtschaft schneller Nachschub wegen dem Fachkräftemangel erhält. Ein paar Monate von zuhause aus Lernen, das hingegen stürzt eine ganzen Generation in die Katastrophe.
Sozial schwach gleich bildungsfern?
Liest man die Horror-Schlagzeilen die aktuell grassieren, rollen ganze Wellen bildungsferner junger Menschen auf uns zu. Ausschließlich wegen der Schüler*innen, die jetzt gerade während dem Lockdown nicht im Präsenzunterricht sitzen. Keine Zukunft, keine Jobs, Massenarmut etc. pp.
Während sich im Internet gestern noch Millionen Virologen tummelten, sind sie heute alle Soziologen und erkennen sich gegenseitig anhand ihrer Grammatikfehler die Kompetenz ab.
Arm ist nur, wer bildungsfern ist. Hartnäckig hält sich diese Sichtweise in der deutschen Gesellschaft. Tatsache ist jedoch, dass Armut und Bildungsstand nicht zwingend zusammenhängen.
Besonders im Hinblick darauf, dass Kinder an dieser Situation vollkommen unschuldig sind, ihnen aber mit solchen Stigmatisierungen jeder Weg verbaut wird, sich selbst aus dieser Lage zu befreien.
Kinder werden klassifiziert und selektiert
Das Ziel des dreigliedrigen Schulsystems für die effizienteste Beschaffung von „Humanressourcen“: Kinder mit schwierigen Startbedingungen werden für die schlechten Jobs selektiert, vermögende für die guten. Man hört recht wenig von Kindern aus der vermögenden Schicht, die Haupt- oder Realschulen besuchen, Arbeiterkinder hingegen erlangen selten höhere Bildungsabschlüsse.
Beweist das nun nicht, dass an der Sache mit der Bildungsferne etwas dran ist? Keineswegs, der wichtigste Faktor fehlt nämlich.
Haben vermögende Schichten die finanziellen Mittel die Defizite ihrer Kinder auszugleichen und gleichzeitig mit „besseren Schulen“ ganz anders anzugehen, haben ärmere Schichten sie schlicht nicht.
Zudem wissen wir, dass ein Kevin nur aufgrund seines Namens schlechter benotet wird als ein Maximilian. Ich würde ja sagen, zum Glück ist wenigstens die verbindliche Schulempfehlung Vergangenheit, doch derzeit plant man sie wieder einzuführen.
Ob nun eine Bibliothek für solche Schüler kostenlos zugänglich ist, ist so häufig man das als Gegenargument auch hört, kein valides Konter. Wenn sich jeder alles selber aneignen kann, brauchen wir auch keine Lehrkräfte und keine Schulen mehr. Universitäten auch nicht, steht schließlich alles auf Seite 25 bis 329 einer beliebigen und kostenlos zugänglichen Fachliteratur. Ziemlich unsinnig, oder?
Wir leben bekanntlich in einer Demokratie. Das bedeutet zwar, dass allen die gleichen Möglichkeiten geboten werden, doch gerade was die Chancengleichheit angeht, sieht es in Deutschland bekanntlich schlecht aus:
Bildung schützt vor Armut nicht, Arbeit übrigens auch nicht – etwas Lesestoff für den Fall, dass die „Mit Willen, Fleiß und harter Arbeit…„-Fraktion gerade ihre Säbel für den Kommentarbereich wetzt.
Und um noch kurz zum Schluss die ärmsten der Armen anzusprechen: Stand 2021 ist 1,61€ für Bildung pro Monat vorgesehen. Nebenbei bemerkt, das ist der kleinste Sektor des Hartz IV-Regelsatzes.